Oswald Spengler: Faustische Wirtschaft, Faustisches Geld

Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ wird heutzutage kaum noch gelesen – trotz der enormen Wirkung auf Spenglers Zeitgenossen ist häufig gerade noch der Titel seines großartigen Werks geläufig. Für die Bescheidwisser und Moralintrinker des universitären Milieus handelt es sich um eines jener Bücher, die „man“ nicht liest. Grund genug, sich Spenglers „Untergang“ zur Lektüre vorzunehmen. 

Spenglers Ausführungen zum Thema Wirtschaft sind von besonderer Bedeutung für die Untergangsgeschichte des Abendlandes, obwohl (vielleicht auch weil) er diese dann nur kursorisch im Schlusskapitel seines Werkes abhandelt. Dasselbe gilt für seine Überlegungen zur Technik.

Für das Verständnis sind zunächst einige Kernthesen von Spenglers Kultur- und Geschichtsphilosophie vorauszuschicken:

Die Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers

Erstens: Spengler weist das in den Geschichtswissenschaften dominierende Schema Antike–Mittelalter–Neuzeit zurück. Dieses Schema sei ein Eurozentrismus, durch den alle anderen in der Menschheitsgeschichte aufgetretenen Kulturen zu bloßen Nebenschauplätzen, und alle früheren Generationen zur Vorgeschichte unserer Zeit gemacht würden.

Zweitens: Der uns beherrschenden geschichtsphilosophischen Vorstellung einer linearen Zeit und eines linearen, kontinuierlichen Fortschrittes stellt Spengler die große Alternative entgegen: Die Idee, dass „Weltgeschichte“, sofern von einer solchen überhaupt zu sprechen ist, aus einem Kommen und Gehen von in sich abgeschlossenen Hochkulturen besteht.

Drittens: Im Kern des kulturphilosophischen Denkens Spenglers steht die organische Metaphorik, Kulturen wie oder sogar als Lebewesen zu begreifen: Kulturen haben ein Leben, das einen Ablauf mit Geburt, Jugend, Reife, Niedergang und  Tod aufweist. Sie folgen dabei einer typischen Entwicklungslogik, die sich in allen Hochkulturen wiederfindet und es erlaubt, diese zu parallelisieren.

Viertens: Es geht in solcher Perspektive deshalb nicht darum, historische Fakten bloß zu verzeichnen, sondern sie zu verstehen, d. h. nachzuvollziehen, welche biographische Bedeutung Ereignisse und Vorgänge im Gang des Lebens einer Kultur haben. Spenglers Geschichtsphilosophie fordert eine Deutung von Phänomenen, nicht die Verzeichnung von Fakten (oder die Rekonstruktion von Intentionen großer Männer).

Fünftens: Die Schöpfungen und biographischen Ereignisse von Kulturen sind als Äußerungen ihrer je eigentümlichen „Seele“ zu deuten:

Staatsformen wie Wirtschaftsformen, Schlachten wie Künste, Wissenschaften wie Götter, Mathematik wie Moral. Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele.

Die vorrangige Methode eines solchen Verstehens besteht darin, bedeutsame Erscheinungen und Ereignisse in Kulturen analogisch auf einander zu beziehen. „Das Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie“. Immer wieder spricht Spengler dabei von der „Gleichzeitigkeit“, freilich in einem nichtlinearen Sinne von Zeit: Gleichzeitig sind „zwei geschichtliche Tatsachen, die, jede in ihrer Kultur, in genau derselben – relativen – Lage auftreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben.“ Es ist dies die wohl kontroverseste, aber auch interessanteste und tiefste Idee Spenglers, nämlich

daß ohne Ausnahme alle großen Schöpfungen und Formen der Religion, Kunst, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft in sämtlichen Kulturen gleichzeitig entstehen, sich vollenden, erlöschen; daß der inneren Struktur der einen die aller anderen durchaus entspricht; daß es nicht eine Erscheinung von tiefer physiognomischer Bedeutung im geschichtlichen Bilde der einen gibt, deren Gegenstück, und zwar in einer streng bezeichnenden Form und an ganz bestimmter Stelle nicht in den übrigen aufzufinden wäre.

Unter diesen Gesichtspunkten stellt Spengler immer wieder vor allem die antike, von ihm auch „apollinisch“ genannte Kultur, und unsere, die abendländische oder faustische Kultur einander gegenüber.

Faustischer Geist

Worin sieht Spengler das Wesen oder die Seele des faustischen Abendlandes ? Auch hierzu Spengler selbst:

Ich will […] die Seele der antiken Kultur, welche den sinnlich-gegenwärtigen Einzelkörper zum Idealtypus des Ausgedehnten wählte, die apollinische nennen. […] Ihr gegenüber stelle ich die faustische Seele, deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren ‚Leib‘ die abendländische Kultur ist […]. Apollinisch ist die Bildsäule des nackten Menschen, faustisch die Kunst der Fuge. Apollinisch sind die mechanische Statik, die sinnlichen Kulte der olympischen Götter, die politisch vereinzelten Griechenstädte, das Verhängnis des Ödipus und das Symbol des Phallus; faustisch die Dynamik Galileis, die katholisch-protestantische Dogmatik, die großen Dynastien der Barockzeit mit ihrer Kabinettspolitik, das Schicksal Lears und das Ideal der Madonna von Dantes Beatrice bis zum Schlusse des zweiten Faust. Apollinisch ist die Malerei, welche einzelne Körper durch Konturen begrenzt, faustisch ist die, welche durch Licht und Schatten Räume bildet […]. Apollinisch ist das Dasein des Griechen, der sein Ich als soma bezeichnet, dem die Idee einer innern Entwicklung und damit eine wirkliche innere oder äußere Geschichte fehlt; faustisch ist ein Dasein, das mit tiefster Bewußtheit geführt wird, das sich selbst zusieht, eine entschlossen persönliche Kultur der Memoiren, Reflexionen, der Rück- und Ausblicke und des Gewissens.

Insbesondere das „Ursymbol des Raumes“, also die grundlegende Raum-Vorstellung in einer Kultur, entfaltet, so Spengler, ihre Konsequenzen in allen menschlichen Betätigungsfeldern – Politik, Kunst, Architektur, Philosophie, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft usw. Der antike Geist denkt Raum und überhaupt Sein und Existenz immer nur dort wo und insofern er es mit Körperhaftigkeit, Masse, Materialität zu tun hat und weist deshalb in all seinen Betätigungen und Schöpfungen eine eigentümliche Statik und Fixiertheit auf Präsenz und Dauer auf. Für den abendländisch-faustischen Geist hingegen ist Raum nicht das Körperhafte, sondern das Dazwischen der Körper, Leere.

Daraus ergebe sich der eigentlich faustische Zug des Dynamischen, des Strebens nach Raum- und Distanzüberwindung, nach Bewegtheit und Fernwirkung; nach praktischer und theoretischer Naturbeherrschung. Das faustische Denken ist ein Denken in Funktionen, Relationen und Kräften, wie sich in allen Betätigungen dieses Geistes zeige, in den eigentümlichen und alleinstellenden Schöpfungen des Abendlandes wie  Experimentalwissenschaft und Technik, Fernwaffe und Kommunikationstechnologie, Automobil und Flugzeug, Energiequelle und Automatisierung, doppelte Buchführung und Derivate. Wir haben es hier nicht einfach mit Erfindungen zu tun, die nur zufälligerweise nicht schon früher und anderswo gemacht wurden, sondern mit genuinen Äußerungen faustischen Geistes, der hierin seinem eigentümlichen Streben folgt.

Für Spengler ist es die Figur des Goethe’schen Faust, die die wesentlichen Züge dieser Kultur und ihrer Entfaltung bis auf ihr erschöpfendes Ende hin idealtypisch in sich vereinigt und ausdrückt – deshalb auch faustisches Abendland:

So ruft der Faust des ersten Teiles der Tragödie, der leidenschaftliche Forscher in einsamen Mitternächten, folgerichtig den des zweiten Teiles und des neuen Jahrhunderts hervor, den Typus einer rein praktischen, weitschauenden, nach außen gerichteten Tätigkeit. Hier hat Goethe psychologisch die ganze Zukunft Westeuropas vorweggenommen. […] So wie Faust am Anfang und Ende der Dichtung, stehen sich innerhalb der Antike der Hellene zur Zeit des Perikles und der Römer zur Zeit Cäsars gegenüber.

Soviel als Hintergrund für eine Darstellung der von Spengler ebenfalls nur skizzenhaften ausgeführten kulturmorphologischen Analysen der Form des wirtschaftlichen Lebens des Abendlandes – also faustische Wirtschaft, faustisches Geld.

Der Gang der Wirtschaftsgeschichte hoher Kulturen

Die analogienschauende Methode Spenglers führt unter Gesichtspunkten der Wirtschaft auf ein allgemeines Schema des Gangs der Wirtschaftsgeschichte der hohen Kulturen. „Wirtschaft“ meint hier zunächst einmal das Erzeugen und Verarbeiten von Gütern zu Zwecken des Lebenserhalts, wie es die Stufe einer vor-zivilisatorischen Tauschwirtschaft und rein subjektiver wirtschaftlicher Werte kennzeichnet: ökonomischen Wert hat hier nur dasjenige, wofür ein konkreter Bedarf besteht.

Für die Geschichte der hohen Kulturen ist nun der erste epochemachende Schritt das Entstehen städtischen Lebens und Geistes. Hier schafft sich eine Kultur als Zivilisation die Ursymbole ihres Denkens mit ihren eigentümlichen Bedeutungen – Zahl, Raum, Zeit, und eben auch das Geld –, die den Keim und die Tendenzen aller weiteren Entwicklung schon in sich enthalten. Die Entfaltung dieser Anlagen, die Ausschöpfung der hier angelegten Möglichkeiten bis hin zu ihrer schließlichen Erschöpfung, ist das Leben und die Geschichte einer Kultur.

Entscheidend ist für Spengler immer das Aufkommen der städtischen Zivilisation. Für das Wirtschaftsleben einer Kultur im Besonderen liegt die Bedeutung darin, dass hier nun auch neben die ursprüngliche „erzeugende“ Wirtschaft eine neue, „erobernde“ hinzutritt, die sich jene zum Objekt macht. Es tritt der Typus des Händlers auf, das heißt: Der Tausch, das Geschäft, wird eine ganz eigenständige und neue Art wirtschaftlichen Tuns und es entsteht das Geld als zunächst bloßes Tauschmittel. 

Damit ist ein Prozess in Gang gesetzt, der sich bis zur finalen Stufe der „weltstädtischen“ Zivilisation und Weltwirtschaft steigern wird: Die überlegene Intelligenz des wirtschaftlichen Geld-Denkens zieht alles in ihre spezifische Form der Rationalität. Wirtschaft überhaupt wird vom Mittel des Lebens zum Selbstzweck, das Geld wird vom Tauschmittel zum allgemeingültig-objektiven Wertmaß: Alles hat nun einen Preis und zuletzt nur noch einen solchen. Dies ist die historisch finale Stufe der von Spengler sogenannten weltstädtischen Zivilisation, deren politische Erscheinungsform die Demokratie, und ihre wirtschaftliche die Globalwirtschaft ist. Spengler:

Zivilisation bezeichnet […] die Stufe einer Kultur, auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung verloren haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muß, um verwirklicht zu werden. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig war. Jetzt ist man mächtig, weil man Geld hat. […] Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht.

Faustische Wirtschaft

Dies ist, so Spengler, das abstrakte, generelle Schema des Gangs der Wirtschaftsgeschichte in allen Kulturen. Der  besondere Charakter der faustischen Wirtschaft ist dann vom Sinn des faustischen Geldes her zu erhellen. Aus diesem wirtschaftlichen Ursymbol werden alle weiteren Grundbegriffe verständlich, die das Wirtschaftsleben des Abendlandes gestalten und antreiben.

Jede Kultur besitzt, wie ihre eigne Art in Geld zu denken, so auch ihr eignes Symbol des Geldes, durch das sie ihr Prinzip der Wertung im Wirtschaftsbilde sichtbar zum Ausdruck bringt.

Abermals die Gegenüberstellung Spenglers: Körperhaftigkeit, Substantialität, Materialität durchziehen und disponieren, wie gesagt, alle Erscheinungsformen der apollinischen Kultur, so wie Beziehung, Funktion, Kraft, Wirkung die der faustischen. Spengler:

Dem antiken Menschen erscheint auch wirtschaftlich die Umwelt als Summe von Körpern, die ihren Ort wechseln, wandern, sich drängen, stoßen, vernichten, so wie es Demokrit von der Natur beschreibt. Der Mensch ist Körper unter Körpern. Die Polis ist als Summe davon ein Körper höherer Ordnung. Der gesamte Lebensbedarf besteht aus körperlichen Größen. Also stellt auch ein Körper das Geld dar, so wie eine Apollostatue die Gottheit darstellt. Um 650 ist, gleichzeitig mit dem Steinkörper des dorischen Tempels und der allseitig frei durchgebildeten Statue auch die Münze entstanden, ein Metallgewicht von schön geprägter Form.

Die Münze also das zentrale Symbol der antik-apollinischen wirtschaftlichen Rationalität – dies erst erhellt den besonderen Sinn der Grundbegriffe antiker Wirtschaft:

Begriffe wie Einkommen, Vermögen, Schuld, Kapital bedeuten in antiken Städten etwas ganz anderes als bei uns, weil nicht wirtschaftliche Energie damit gemeint ist, die von einem Punkte ausstrahlt, sondern eine Summe von Wertgegenständen, die sich in einer Hand befinden. Vermögen ist immer ein beweglicher Barvorrat, der durch Addition und Subtraktion von Wertsachen verändert wird und mit Grundbesitz gar nichts zu tun hat. Beide sind im antiken Denken völlig getrennt. Kredit besteht im Leihen von Bargeld in der Erwartung, daß es als solches wieder zurückgegeben werden kann.

Alles resultiert für den antiken Geist also aus der Fixierung des Geldes als einer körperlichen Sache; was überhaupt Träger wirtschaftlichen Wertes soll sein können, muss dieser Symbolik entsprechen und durch sie substituierbar sein. Das Unkörperliche kommt hier überhaupt nicht in Betracht, es bleibt unter ökonomischen Gesichtspunkten schlechterdings unsichtbar, ja ökonomisch undenkbar. Die Antike kommt in tausend Jahren nicht auf die Idee, Grundbesitz, geistige Werke, Verfahren und Potentiale selbst als wirtschaftliche Werte zu betrachten und zu monetarisieren.

Hingegen kommt dem abendländisch-faustischen Geist die Welt, wirtschaftlich wie auch überhaupt, gerade nur so und insofern in den Blick, als es sich darin um Relationen, Potentiale, Kräfte, Wirkungen handelt. Nicht eine Wertsache, sondern ein renditefähiges Asset ist der ökonomisch relevante Besitz; nicht in Materialität und Dauer, um derentwillen ja die Antike das Gold suchte, liegt dessen Wert, sondern in seiner Liquidität, also in der Möglichkeit, ein bloß angelegtes Vermögen jederzeit in beliebige andere Anlageformen zu überführen. Nicht der Körper des Sklaven wird besessen, sondern die Arbeitskraft als solche wird genutzt, bepreist, gehandelt. Kapital ist nicht ein Geldhaufen, sondern besteht in der Kontrolle über Produktionsmittel, Arbeitskraft, Fertigkeiten, technische Verfahren. Wirtschaft und wirtschaftliches Ideal sind dem abendländischen Menschen nicht, wie dem antiken: Bedürfnisbefriedigung und Autarkie, sondern Wachstum und Überschuss – Überschuss, der nicht verkonsumiert, sondern reinvestiert werden will – und Wettbewerbsfähigkeit, also strategischer, intelligenzmäßiger Vorsprung.

Dieser tiefe Unterschied in den Formen des wirtschaftlichen Lebens erklärt sich für Spengler aus einem völlig anderen Ursymbol des Geldes:

Die Erfindung des klassisch geformten Geldkörpers […] ist so außerordentlich, daß wir seine tiefe, rein antike Bedeutung noch gar nicht begriffen haben. Wir halten ihn für eine jener berühmten ‚Errungenschaften der Menschheit‘. Allenthalben werden seitdem Münzen geprägt, so wie überall Statuen auf Straßen und Plätzen herumstehen. So weit reicht unsere Macht. Wir können die Gestalt nachahmen, aber ihr die gleiche wirtschaftliche Bedeutung geben können wir nicht. Die Münze als Geld ist eine rein antike Erscheinung und nur in einer ganz euklidisch gedachten Umgebung möglich.

Das faustische Abendland denkt aber von Anfang an nicht „euklidisch“, sondern dynamisch und in Relationen und Potentialen. „Den äußersten Gegensatz“ zur antiken Münze bildet deshalb auch genau „das Symbol des faustischen Geldes, des Geldes als Funktion, als Kraft, dessen Wert in seiner Wirkung, nicht in seinem bloßen Dasein liegt.“

Geläufig ist die Klage, wir hätten mit Papier- und elektronischem Geld gar kein „echtes“ Geld mehr, wir sollten zum Goldstandard zurückkehren, die Geldmenge wachse durch Verzinsung, Giralgeldschöpfung und Finanzspekulation ins Irreale und der gleichen. Solche Einlassungen aber offenbaren ein Selbstmissverständnis und Verkennen des eigentlichen Charakters unseres Wirtschaftsdenkens. Das sinnlich fassbare Symbol des faustischen Geldes ist gar nicht die Münze. Faustisches Geld ist, so Spengler, „Buchgeld“, „Kreditgeld“. Es ist der Buchungsakt, der dieses Geld schöpft, nicht der Münzschlag. Und strenger noch: „das Sinnbild des hier gedachten funktionalen Geldes, das was allein mit der antiken Münze verglichen werden darf, ist nicht der Buchvermerk und auch nicht der Wechsel, Scheck oder die Banknote, sondern der Akt, durch welchen die Funktion schriftlich vollzogen wird und als dessen bloßes geschichtliches Zeugnis das Wertpapier im weitesten Sinne zu gelten hat.“

Gleichzeitig im zuvor genannten Sinne findet deshalb für Spengler mit „der Erfindung der antiken Münze um 650, die der doppelten Buchführung“ in den Handelszentren des 14. Jahrhunderts statt. Genau hier kommt der faustische Wirtschaftsgeist zu sich selbst, so wie das antike Wertdenken in der Erfindung der Münze, und es könnte mit gutem Recht das Motto auch des faustischen Geldes lauten: Quod non est in libris, non est in mundo.

Mit der Erfindung der doppelten Buchführung tritt die Idee der Firma als wirtschaftlicher Organisationseinheit in die Welt, eine exklusiv abendländische Schöpfung, der nichts im Denken der Antike entspricht: eine von einem personalen Träger entkoppelte eigenständige Entität, die ein Zentrum ökonomischen Potentials, Kräfte und Beziehungen darstellt: „Die doppelte Buchführung ist eine reine Analysis des Wertraums, bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt ‚die Firma‘ ist“. Und:

Erst die Herrschaft der Buchwerte, deren abstraktes System durch die doppelte Buchführung von der Persönlichkeit gleichsam abgelöst ist und mit eigener innerer Dynamik fortarbeitet, hat das moderne Kapital hervorgebracht, dessen Kraftfeld die Erde umspannt.

Tendenzen

Wir kommen so auf eine faustische Wirtschaft, die sich durch eine ihr innewohnende Expansions- und Globalisierungstendenz auszeichnet, wie sie der antiken Wirtschaft nicht eigneten. Sofern überhaupt im geistigen Sinne der Antike von „wirtschaftlichem Wachstum“ gesprochen werden kann, läuft dies auf die Vermehrung eines Besitzes an Sachen hinaus und hängt insbesondere davon ab, dass eine Person als dessen Besitzer noch mehr an Reichtum haben will.

Wer aber etwa meint, das „Problem“ des modernen Kapitalismus liege in der „Gier“ seiner Protagonisten, und die Lösung in einer „Abkehr von der Wachstumsideologie“, der mag sich bestens in die Riege der deutschen Bescheidwisser einfügen, eine tiefere Einsicht in das Wesen der abendländischen Wirtschaft und den Grund ihrer enormen Dynamik aber ist damit nicht zum Ausdruck gebracht. Denn: Es gibt keine faustische Wirtschaft, also keinen Kapitalismus, ohne Wachstum im Sinne der immer weitergetriebenen qualitativen Expansion. Es ist dies das Wesen dieser Wirtschaft und der Seele der sie hervorbringenden Kultur. Diese wirtschaftliche Expansion bedeutet – um den Doppelsinn des Wortes „Vermögen“ aufzugreifen – nicht die antike Vergrößerung eines Vermögens an Reichtümern, sondern die Erhöhung des wirtschaftlichen Vermögens im Sinne des Potentials einer ökonomischen Einheit, also der Firma – oder im Sinne der Volkswirtschaft: der funktionalen Integration vieler solcher Firmen. Eines wirtschaftlichen Potentials nämlich, und das ist hier sehr bedeutsam, zur Schöpfung von Geld. Jene Tendenz zur Expansion des „modernen Kapitals“ ergibt sich, so Spengler, nicht aus dem Willen Einzelner, sondern aus „eigener innerer Dynamik“ der faustischen Wirtschaft und faustischen Geldes.

Dadurch dass nach und nach Alles in in das Denken in Geld hineingezogen wird, wächst auch die Geldmenge und zwar mit einer Geschwindigkeit, die proportional zu derjenigen ist, mit der sich diese „Ökonomisierung“ oder „Einpreisung“ von Allem vollzieht:

Die zunehmende Intensität dieses Denkens erscheint im Wirtschaftsbilde als Wachstum der vorhandenen Geldmasse, die als etwas ganz abstraktes und eingebildetes mit dem sichtbaren Vorrat von Gold als einer Ware gar nichts zu tun hat. […] Die steigende Energie des Gelddenkens erweckt deshalb in allen Kulturen das Gefühl, daß der ‚Geldwert sinkt‘. […] Es ist zuletzt gleichgültig, […] ob wir in einigen Jahrzehnten von den um 1850 noch unbekannten und uns heute ganz geläufigen Milliarden zu Billionen übergehen werden. […] Es bleibt nur die Tatsache, daß die Geldmenge […] ein alter ego des Denkens ist.

Die selbsttätige Ausbreitung des Denkens in Geld führt schließlich zur Verdrängung aller anderen Kategorien des Denkens durch die Kategorie des Geldes. Es sei das schon Zitierte wiederholt:

Zivilisation bezeichnet […] die Stufe einer Kultur, auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung verloren haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muß, um verwirklicht zu werden. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig war. Jetzt ist man mächtig, weil man Geld hat. Erst das Geld erhebt den Geist auf den Thron. Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht.“

So Spenglers Bestimmung der grundsätzlichen Tendenzen und dessen, wo wir uns im Prozess der faustischen Wirtschaftsgeschichte befinden. Um die Darstellung nun mit einer – nicht finanziellen, sondern spengler’sch-philosophischen – Spekulation noch abzuschließen: Während die antike Wirtschaft letztlich ausglühte weil – aus welchen Gründen auch immer – keine neuen Wertgegenstände mehr angeeignet werden konnten, ist für die faustische Wirtschaft damit zu rechnen, dass auf ihr Heißlaufen schließlich gleichsam eine „Kernschmelze“ folgen wird: Das rapide Wachstum der Geldmenge, das wir in unserer Zeit beobachten können, ist ja nicht eines, das linear-proportional der Produktion von Gütern entspräche, sondern wir sprechen hier, um Spenglers Reihe von Milliarden und Billionen fortzusetzen, mit der sog. Geldmenge M3 gegenwärtig von schätzungsweise über 1 Quadrillion $. Wir haben es hier mit einem  sich immer intensiver und enger spinnenden globalen Netz aus wechselseitigen Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten zu tun. Am Ende dieses Prozesses, wenn aufgrund der Erschöpfung des faustischen Wirtschaftsgeistes dereinst keine Schöpfung neuen faustischen Geldes mehr möglich sein wird, wird ein letztes, totales „Clearing“ und „Settlement“ stehen.

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