Philosophische Kritik besteht nicht im schlichten Zurückweisen, Schlechtreden oder Verdammen, sondern in der Prüfung und Beurteilung von Meinungen, Positionen oder ganzen Theorien auf ihre Reichweite, Grenzen, Voraussetzungen und Folgen hin. Solche Kritik kann zu einer Weiterentwicklung und Verfeinerung des Kritisierten führen. Sie kann aber auch zu der Einsicht führen, dass das Kritisierte schlechterdings nicht haltbar ist – wobei der negative Befund dann zumindest begründet wäre und nicht auf bloßer Abneigung beruhend.
Nachdem in einem ersten Artikel Grundzüge des Libertarismus skizziert wurden, soll nun im Sinne einer solchen konstruktiven Kritik überlegt werden, wie eine libertär inspirierte Politische Philosophie weiter zu entwickeln wäre. Bei jeder Politischen Philosophie ist es unerlässlich, zu fragen, wie sie sich in der konkreten Wirklichkeit bewähren würde und mit welchen Problemen sie umzugehen hätte. Um solche Fragen zu klären, braucht es aber zunächst Problembeschreibungen, was in diesem zweiten Artikel geschehen soll. In einem dritten und abschließenden Artikel soll dann überlegt werden, wie eine libertär orientierte Politische Philosophie den zu diskutierenden Problemen begegnen könnte. Dergleichen ist im hier gegebenen Rahmen freilich nur auf grobe Weise möglich. Zwar sind, anders als es von Politikern unablässig behauptet wird, die Probleme und Lösungen im Politischen zumeist nicht „komplex“, sondern einfach. Das heißt aber nicht, dass sie auf Twitter- oder Blogbeitragslänge abzuhandeln wären. Denn gegen das verkomplizierende und über das Wesentliche hinwegtäuschende Gerede von der Komplexität ist Klarheit herzustellen, ein auf Klarheit abzielendes Denken aber benötigt Zeit und Raum.
Zunächst seien die (im ersten Artikel ausführlicher dargestellten) Grundanahmen einer libertären Philosophie noch einmal in groben Zügen rekapituliert: Da jeder einzelne Mensch angeborene Freiheitsrechte besitzt, darf keiner zu irgendetwas gezwungen werden. Nun sind die Menschen einander gefährlich, weil sie sich eben nicht ohne Weiteres an dieses Moralgebot halten und allzu häufig doch nur zum eigenen Vorteil handeln. Daher liegt es im eigenen Interesse jedes Einzelnen, in einem Staat zu leben, jedenfalls sofern dieser ihm Sicherheit bietet. Allerdings muss ein Staat zu diesem Zweck immer auch die Freiheit seiner Bürger einschränken. Ein Staat kann daher nur legitim sein, wenn der Einzelne sich freiwillig unterordnet und seine eigene Freiheit aus freien Stücken selbst einschränkt oder einschränken lässt. Dies ist die Idee eines Gesellschaftsvertrags, durch den ein Staat entsteht.
Der Staat
Staat ist, wer das Gewaltmonopol auf einem Territorium hat, d. h. Recht setzen, Recht sprechen und Recht durchsetzen kann. Weil bekanntlich auch das Gewaltmonopol nicht ungefährlich ist, machen besonders radikale Libertäre einen Schritt vor der Staatsidee halt und hängen der anarchistischen Utopie einer Welt an, in der es nur Individuen und deren freie Kooperation gibt. In einem solchen Szenario sollen dann, so die Erwartung, auch Unternehmen entstehen, die auf einem völlig freien Markt allerlei Dienstleistungen anbieten, welche üblicherweise als Aufgaben des Staates angesehen werden: Schutz, Infrastruktur, Risikoabsicherung, Bildung usw. Allerdings muss man schon ein sehr optimistisches Menschenbild haben, um dergleichen für durchführbar zu halten. Denn andernfalls ist das Problem ja nicht aus der Welt: Der Einzelne ist an seinem eigenen Vorteil orientiert und er ist allein schon dadurch eine potentielle Gefahr für andere. Wer könnte aber in einem solchen Szenario als rechtliche Entscheidungsinstanz angerufen werden, wenn es zum Konflikt zwischen zwei Individuen oder zwischen Kunde und Dienstleister kommt? Der Staat mit seinem Gewaltmonopol und Rechtsprechung scheint eine Lösung für dieses Problem zu sein. (Der libertäre Philosoph Robert Nozick diskutiert dies eingehend in seinem Buch Anarchy, State, and Utopia.)
Wer nun den gedanklichen Schritt in den Staat vollzieht, sollte allerdings auch fragen, wie es dann weiter geht. Gerade hier, in der Frage der konkreten Realisierung, muss eine Politische Philosophie sich ja bewähren, sofern sie mehr sein will als ein bloß ideales Modell. Denn Idealität sollte nicht mit Realität verwechselt werden: Wenn das Ziel ist, eine Staatsform zu finden, die Freiheit und Sicherheit auf sinnvolle Weise in Einklang bringt oder ausbalanciert, dann kann nicht erwartet werden, dass sich eine Lösung finden lässt, die dies auf alle Ewigkeit garantiert. Zu viele Faktoren in der Wirklichkeit – zuallererst wohl der Mensch selbst – konterkarieren diesen Wunsch. Gleichwohl ist jene unerfüllbare Erwartung durchaus verbreitet. So erklären Linke das regelmäßige Scheitern sozialistischer Versuche ja immer wieder damit, dass es eben nur noch nicht der echte Sozialismus gewesen sei, dass es beim nächsten Mal aber funktionieren werde, wenn man es nur endlich mit dem richtigen, dem idealen versuche.
Historisch gesehen ist jedenfalls bislang noch jeder Staat auf die eine oder andere Weise zugrunde gegangen, und häufig gerade, weil er entweder zu wenig Freiheit oder zu wenig Sicherheit (oder beides zugleich) gewährleistet hat. Die Frage muss daher sein, was diese Verfallstendenzen bewirkt, begünstigt oder beschleunigt, und was diesen Verfall andererseits hemmen und bremsen mag. Eine realistische, auf langfristige Verwirklichbarkeit setzende Politische Philosophie wird hierauf Antworten finden müssen und in ihre Überlegungen zur richtigen Staatsform einfließen lassen müssen. Ohne Zweifel gibt es viele Faktoren, die zum Verfall von staatlichen Gemeinwesen beitragen. Hier soll nur einer davon angesprochen werden, dessen Dynamik aber gerade auch von Libertären häufig genug nicht bedacht wird: Die Inflation der Ansprüche.
Inflation der Ansprüche
Die (libertäre) Ausgangslage ist, dass der Mensch, auch wenn er außerhalb eines Staates existiert (sich also im Naturzustand befindet), bereits seine angeborenen Freiheitsrechte besitzt: das Recht auf Unversehrtheit, Leben, Eigentum, Bewegungsfreiheit, Handlungsfreiheit, freie Rede usw. Diese Rechte sind, genauer besehen, Abwehrrechte: Sie wehren Übergriffe anderer ab, sie schützen den Einzelnen, indem sie den anderen gewisse Handlungen verbieten. (Dass sie, weil sie zunächst lediglich Moralgebote sind, eine nur schwache Kraft haben, wurde bereits gesagt.)
Mit dem Staat entsteht nun aber noch eine ganz andere Art von Rechten, nämlich die Anspruchsrechte: Der Bürger eines Staates hat gegenüber seinem Staat Ansprüche, das heißt Rechte darauf, dass der Staat ihm gegenüber Leistungen erbringt, und zwar jedenfalls Schutz und Rechtssicherheit, zumeist aber auch allerlei Arten der weiteren Fürsorge. Gerade diese Leistungen sind ja der Grund dafür, dass der Einzelne sich in den staatlichen Zustand begibt und bereit sein mag, dafür auf einige seiner Freiheiten zu verzichten.
Nun besteht zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten ein tiefgreifender Unterschied, der häufig verwischt oder überhaupt nicht gesehen wird, obwohl er bedeutsam und folgenreich ist: Während Abwehrrechte die Freiheitvon etwas bedeuten, sind Anspruchsrechte Rechte auf etwas. Abwehrrechte verbieten den Menschen gewisse Handlungen, Anspruchsrechte hingegen verlangen gerade, dass sie etwas tun, sind also Pflichten, etwas zu tun. Denn der Anspruch eines Bürgers gegenüber dem Staat ist in Wahrheit immer ein Anspruch gegenüber allen anderen Bürgern: Schließlich muss der Staat die Leistungen, die er erbringt, auch finanzieren und hierfür Steuern erheben – Steuern aber sind Zwang und Eingriffe in das Eigentumsrecht (auch hierzu sei auf das oben erwähnte Buch von Robert Nozick verwiesen). Besonders deutlich, weil letal, wird der staatliche Zwang, der mit den Anspruchsrechten einhergeht, wenn es nicht mehr nur um Steuern geht, sondern auch eine Wehrpflicht herrscht: Von einigen Bürgern wird dann verlangt, ihr Leben zu riskieren, um den Staat oder andere Bürger zu schützen. In einem solchen Staat kann der Einzelne von den anderen gezwungen werden, in den Tod zu gehen.
Kurz gesagt: Die Kehrseite des Rechts auf etwas des Einen ist eine Pflicht zu etwas des Anderen, und je mehr Ansprüche der Einzelne hat, desto unfreier sind alle. Anspruchsrechte stehen also grundsätzlich im Konflikt mit Freiheitsrechten – was allerdings per se noch nicht notwendigerweise ein Problem ist. Denn nochmals: Die Individuen treten ja aus freien Stücken in den staatlichen Zustand ein, sie geben freiwillig einen Teil ihrer Freiheiten auf und übertragen dem Staat das Recht, sie – innerhalb gewisser Grenzen – zu etwas zu zwingen. Sie tun dies aber gerade, um in den Genuss gewisser Anspruchsrechte zu kommen.
Nun lässt sich in der Geschichte immer wieder beobachten, dass die Anspruchsrechte im Laufe der Zeit immer mehr werden: Der liberale Staat des 19. Jahrhunderts verwandelt sich im 20. Jahrhundert in den Sozialstaat und im 21. zunehmend in einen sozialistischen Umverteilungs- und Erziehungsstaat, was notwendigerweise auf Kosten der Freiheitsrechte geht. Die Bürger werden im Verlauf dieser Entwicklung zunehmend unfreier und es ist die Frage zu stellen, ob dies überhaupt noch durch den Gesellschaftsvertrag gedeckt ist oder sich die illegitimen Verletzungen der Freiheitsrechte häufen. Wir sehen gerade in unserer Zeit, wie die Eingriffe in Eigentum und Meinungsfreiheit rapide zunehmen – wohlgemerkt der Meinungsfreiheit, nicht nur der Meinungsäußerungsfreiheit, wie das Beispiel der Gendersprache vor Augen führt. Denn bei dieser geht es nicht einmal mehr nur um Sprachregelungen, sondern erklärtermaßen sogar darum, das Denken der Menschen zu verändern, was nichts anderes heißt als sie programmieren zu wollen: Ein moralisch perverses Projekt, das umso mehr zu verdammen ist, als es auch noch unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit betrieben wird.
Es scheint also in Staaten eine grundsätzliche Tendenz zur Inflation der Ansprüche zu geben, eine Linksdrift, die zudem in Demokratien offensichtlich besonders intensiv ausgeprägt ist. Woher rührt diese Tendenz? Die Antwort hierauf dürfte eine anthropologische sein, das heißt eine solche, die auf das Wesen des Menschen Bezug nimmt: Der Mensch ist Egoist, er ist an seinem eigenen Vorteil interessiert. Das liegt in seinem Wesen, weshalb dieser Egoismus auch bereits zur Beschreibung des Naturzustandes gehörte. Der Eigennutz des Einzelnen bringt mit sich, dass die Menschen einander gefährlich sind, allerdings ist er auch der Grund dafür, den Staat allererst zu schaffen. Denn der Mensch ist (so jedenfalls die Annahme der Gesellschaftsvertrags-Theorien) auch ein rationalesWesen: Der Einzelne müsste daher auch einsehen, dass es für ihn vorteilhafter ist, einen Teil seiner Freiheit aufzugeben und unter dem Schutz eines Staates zu leben. Man kann daher sagen, dass der Gesellschaftsvertrag aus rationalem Eigennutz geschlossen wird (darin bereits eine moralische Minderwertigkeit zu sehen, wäre allerdings ein Fehler).
Nur sollte man nicht glauben, das Eigennutz- und Vorteilsstreben des Menschen würde mit dem Eintritt in den Staat verschwinden. Das ist mitnichten der Fall, vielmehr kann es durch die staatliche Gewalt lediglich in bestimmten Formen unterbunden werden, wird sich dann allerdings auf andere Weisen betätigen. So tendieren die Bürger eines Staates regelmäßig dazu, zum eigenen Vorteil Leistungen in Anspruch zu nehmen, auf die sie zwar ein Recht haben, die sie aber eigentlich nicht benötigen (Mitnahmementalität); in Demokratien werden sie außerdem dazu tendieren, jene Politiker oder Parteien zu wählen, die ihnen einen Vorteil versprechen (Klientelpolitik).
Das Vorteilsstreben der Menschen führt also dazu, dass über die Zeit hinweg die Anspruchsrechte immer weiter ausgedehnt werden. Der dabei notwendigerweise auftretende Konflikt mit den Abwehrrechten wird in der Regel auf mehr oder weniger subtile Weise zugunsten der Anspruchsrechte entschieden. Man konnte dies in der Covid-Krise sehen, wo einige das Recht auf Leben, das ein Abwehrrecht ist, umdeuten wollten zu einem Anspruchsrecht: Der Staat habe die Pflicht, das Leben seiner Bürger mit allen Mitteln zu erhalten und gegen jedes Risiko abzusichern. Zu diesem Zweck könne er Grundrechte wie Bewegunsfreiheit und körperliche Unversehrtheit nach Belieben einschränken usw.
Ein weiteres Beispiel für die Umdeutung von Abwehrrechten in Anspruchsrechte ist der Gleichberechtigungsgrundsatz, der es verbietet, Bürger gegenüber anderen zu benachteiligen. Das Recht auf Gleichbehandlung wird zunehmend als Gleichstellungsanspruch ausgelegt, um Einzelne zu bevorzugen. An diesem Beispiel lässt sich auch sehen, wie ein Anspruchsrecht (Gleichstellung als ein Recht auf Bevorzugung) das ursprüngliche Abwehrrecht (nicht benachteiligt zu werden) unterminiert: Denn die Bevorzugung des einen ist nun einmal die Benachteiligung des anderen.
Die fortschreitende Ausweitung der Anspruchsrechte bringt mit sich, dass der Staat sich immer mehr in Richtung Unfreiheit entwickelt und dabei immer weiter von seiner ursprünglichen Verfassung bzw. dem Gesellschaftsvertrag entfernt. Der Gesellschaftsvertrag wird zunehmend vom einen Vertragspartner zum Nachteil des anderen Vertragspartners ausgelegt, der seine Zahlungen in der Währung Freiheit zu leisten hat. Nun könnte man behaupten, dies geschehe ja mit Zustimmung der Bürger. Zum einen gebe es ja demokratische Wahlen, zum anderen die „schweigende Zustimmung“ zur Rechtsordnung. Das dürfte jedoch eine von der Wirklichkeit entkoppelte eher ideologisch motivierte Einschätzung sein. Tatsächlich ist ja längst zu beobachten, dass ein wachsender Teil der Bürger mit den immer weiter gehenden Beschneidung ihrer Freiheitsrechte nicht einverstanden ist, den Gesellschaftsvertrag also zunehmend verletzt sieht.
Mit dem sich auch im staatlichen Zustand äußernden Egoismus und der sich daraus ergebenden Inflation der Anspruchsrechte ist eine grundsätzliche Problematik angesprochen, auf die eine libertär orientierte politische Philosophie auch eine Antwort bieten kann. Dieser wird sich der folgende Artikel widmen.